Nicht aufregen, nur wundern

Geier Sturzflug besangen einst den “Walkmanfan”. Mich erreichte der technische Fortschritt 1995. Ich war zum ersten Mal in den USA und durchstöberte gleich in der ersten Woche mehrere Plattenläden in San Diego. In einem der Geschäfte gab es unzählige gebrauchte MCs zum Spottpreis. Dort kaufte ich knapp 20 US-Metal-Alben, die in Europa nur schwer oder gar nicht erhältlich waren. Das Mietauto hatte zwar einen Kassettenspieler, aber meiner Eltern wollten die Musik (bzw. den Lärm) eher ungern hören. Deshalb kauften sie mir für die zwei verbleibenden Wochen für zehn Dollar einen tragbaren Kassettenspieler mit Kopfhörer, so dass ich fortan täglich Bands wie Sanctuary, Toxik, Powermad und Intruder hören konnte. Nach diesen zwei Wochen leistete mir das Teil noch jahrelang gute Dienste.

Sein Nachfolger hielt nicht halb so lange durch. Und danach wurde alles ganz furchtbar. Weder CD- noch MP3-Spieler hielten länger als ein Jahr, was natürlich ein Stück weit daran liegen mag, dass ich meistens das billigste Modell gekauft hatte. Das aktuelle Exemplar kaufte ich folglich nur sehr, sehr zögerlich; nicht nur wegen der niedrigen Lebenserwartung, sondern auch weil ich fürchte, dass dafür in anderen Teilen dieser Welt Menschen ausgebeutet und Abfälle sorglos entsorgt wurden.

Parallel zu der technischen Entwicklung fanden soziale Veränderungen statt. Standen in meiner Jugend noch Metal-Fans in Verruf, dass sie monotone, viel zu laute Musik hören, scheint es mir heutzutage eine gänzlich andere Kultur zu sein. Schauplatz ist in den meisten Fällen der öffentliche Personennahverkehr. Hier treffen Kulturen (vorselektiert) aufeinander. Hier beobachte ich die Verrohung der Jugend. Dass im Bus schnell die gruppendynamische Hölle ausbricht, ist nichts Neues. Ich finde jedoch, dass immer mehr Leute immer lauter Musik hören, wenn sie unterwegs sind.

Das alleine ist schon frustrierend, weil ich kein Ohrenarzt bin und somit nicht direkt monetär von dieser Entwicklung profitieren kann. Dass viele Leute keine Anstalten machen, die Beschallung aus der Konserve einzustellen, wenn sie Bekannten begegnen und sich mit ihnen unterhalten, finde ich nicht minder unverschämt. Mehr noch als diese physiologischen und sozialen Aspekten treibt mich jedoch die musikalische Monotonie zur Verzweiflung, die aus den Kopfhörern dieser Leute tönt. Besonders beim Rhythmus, den man notgedrungen am deutlichsten hört, ist eine Steigerung in Sachen Primitivität und Künstlichkeit kaum mehr vorstellbar. Ich wage es nicht, mir auszumalen, welchen Einfluss die permanente Wiederholung unorigineller Rhythmen auf die Psyche der Leute hat.

Ich muss zugeben, dass ich viele Lieder mag, die in dieser Hinsicht ähnlich wenig Abwechslung zu bieten haben. Aber ich sitze nicht in der letzten Busreihe, wo der Motor am lautesten rattert, und dröhne mir (und den anderen Fahrgästen) damit die Ohren zu. Obwohl ich selbst Schlagzeuger bin, würde ich es durchaus begrüßen, wenn Künstler vermehrt auf schlanke, harmonie- und melodiebetonende Arrangements setzen und auf unnötige Groovemonotonie verzichten würden. Mein Reisesoundtrack besteht mittlerweile zu einem Großteil aus Akustikstücken und dergleichen, z.B. von den Brandos, Richard Shindell und Dar Williams. Außerdem bin ich froh, dass Bands wie Änglagård mit ihrer Musik das 4/4-Takt-Grundgerüst niederreißen und auf den Trümmern grandiose Klangwelten errichten. (Wer in diesem Zusammenhang mehr lesen will, möge bitte die aktuelle Startseite von Mattias Olssons Blog anschauen.)

Der Gipfel der Unverschämtheit sind natürlich Menschen, die nicht den Umweg über einen Kopfhörer nehmen und mit ihren modernen Handys das ganze Abteil beschallen. Im Vergleich zu den wirklichen Problemen der Welt ist das natürlich Kinderfasching. Es wäre viel wichtiger, dass ein Ruck durch die Bevölkerung geht, die Atomkraftwerke endlich stillgelegt werden und sich Vernunft über den Globus ausbreitet. Allerdings vermute ich, dass das nur noch eine reine Formsache wäre, wenn jeder das neue Reinhard Mey-Album kaufen und sich dessen Botschaften zu Herzen nehmen würden.

One Comment

  1. Paula:

    Schön!