Keine Lieder über Solarzellen

Dieser Text (ursprünglich bei Vampster erschienen) richtet sich in erster Linie an aktive Musikerinnen und Musiker. Es ist ein Aufruf an alle, die Texte von Heavy Metal-Liedern schreiben: Emanzipiert euch! Die Zukunft des gesamten Musikstils hängt davon ab.

Das Fass ist übergelaufen. Auslöser dafür war kein Tropfen, Auslöser dafür war eine Flut, die eigentlich überdeutlich in meinem Plattenschrank zu sehen ist: Heavy Metal-Songtexte sind überwiegend primitiv und im höchsten Maße unoriginell. Die Erkenntnis ist wenig überraschend, aber doch erschreckend. Ich brauche nur blind ein Inlay aus dem CD-Regal herausgreifen und zwei, drei Zeilen lesen. Mit etwas Glück ist es die Dankesliste. Wahrscheinlicher geht es jedoch um Werte wie Freiheit und den Kampf gegen das Böse. Jeder Metal-Fan kann das bei sich zu Hause ausprobieren; einfach reingreifen und lesen. Es wird vage sein. Es wird schwammig sein. Und möglicherweise wird man feststellen, dass man die folgenden drölf Zeilen, die um der Reime Willen nahezu sinnfrei gehalten wurden, auswendig kennt. Man kennt tatsächlich Hunderte von Schlachthymnen, aber kein Rezept für leckeres Rissotto. Man kennt den Namen des Schwerts, mit dem Fingolfin zum Kampf gegen Morgoth auszog, weiß aber nicht, wie der Bundesverkehrsminister heißt. Man kennt 50 verschiedene Gedichte über die heldenhafte Rettung einer Prinzessin aus tiefstem Kerker, findet aber keine Worte um das Objekt seiner heimlichen Sehnsucht auf einen Kaffee einzuladen.

Beim zweiten Blick in den Plattenschrank wird mir klar, dass da eine ganze Menge Lieder drinstecken, die in ihrer Gesamtheit ungleich weniger Themen behandeln – und das meist ungemein oberflächlich. Wo sind ausgefeilte Gesellschaftstheorien? Wo sind konkrete Lösungsansätze für soziale Konflikte? Wo sind fesselnde Geschichten mit tiefgründigen Charakteren und verworrenen Handlungssträngen? Damit meine ich keinesfalls all jene Konzeptalben über Gehirnwäsche und Seelenwanderung, die einzig sprachlich verworren sind. Derart unlogische, überkonstruierte Inhalte machen mich immer ganz kirre; ein wenig Philosophie, reichlich Esoterik; ein wenig Fantasy, viel Mittelerdezweitverwertung; ein wenig Sinn, scheinbar unendlich viel Irrsinn. Selbstverständlich hat nicht jede gute Band ein lyrisches Talent in ihren Reihen. Doch bevor man deshalb einen weiteren stumpfen Text über Ehre und Tod – oder gar 12 davon – dichtet, sollte man nur mal bedenken, welche pragmatischen Vorteile es hat, wenn man Songtitel wie “Shopping Cart Race”, “Graveyard Girl” und “My PIN is 7144” statt “Glory of Steel”, “Lord of Darkness” und “Angel of War” hat. Jeder in der Band weiß sofort, um welches Lied es gerade geht, und das Publikum vergisst Band und Lieder nicht gleich nach der Umbaupause.

Neben der Einfältigkeit finde ich die Realitätsimmunität vieler Texte Besorgnis erregend. Eine Pubertät lang ist Fantasy ja ganz nett und ein bisschen Träumerei hat noch niemandem geschadet. Immerhin hören einige Leute die Musik nicht zuletzt, um vom Alltag etwas Abstand zu gewinnen. Dass aber jeder Ansatz von Bedeutung erbarmungslos von Metaphern (und solchen, die es werden wollen) erschlagen wird, sollte eigentlich zu einem umgehenden Boykott führen. Gerade wenn die Musik im Vordergrund stehen soll oder der Gesang ohnehin unverständlich ist, wäre es ein Frevel, die Texte für Zombiebanalitäten oder eben Religionsbeschimpfungen zu vergeuden. Schließlich gibt es mittlerweile ausgereifte memetische Religionstheorien, die ungleich effektiver und subversiver wirken, sowie die Möglichkeit mit Fachkräften aus Medizin und Forschung in Sachen Blut und Gedärme zu kooperieren. Und wenn’s im Studio mal schnell gehen muss, könnte man auch Beipackzettel nehmen. Zu Risiken und Nebenwirkungen hören Sie Grindcore!

Ich bin mir bewusst, dass meine Forderungen unrealistisch sind und ich möglicherweise der einzige bin, der sich fragt, was sein könnte. Und natürlich sieht die Sache bei anderen Musikstilen ähnlich aus. Doch genau das ist DIE Chance für den Heavy Metal, fit für die Zukunft zu werden. Der aktuelle Charthit über das gebrochene Herz wird so schnell gehen, wie er gekommen ist, und das Zielpublikum des Volkmusikschlagers über die Gaudi auf’m Dorffest stirbt langsam aber sicher aus – WENN denn der Heavy Metal aufwacht, sich textlich neu erfindet und die heutige Jugend davor bewahrt, in der Musik einzig den Soundtrack für Sauforgien und Paarungsrituale zu sehen. Dazu braucht es Speed Metal-Songs, die sich statt um die Mitternachtssonne um die Mitternachtsformel drehen – schon sind E-Gitarren mitten im Matheunterricht! Die Lücke zwischen “Alexander, The Great” und “Louis XIV” muss ebenfalls dringend mit frischem Edelmetall geschlossen werden. Langhaarige Gestalten werden dann nicht mehr länger Inselbegabte sein, die im Englischunterricht mit der Kenntnis von 17 Begriffen zur Ãœbersetzung von töten/vernichten ihre mündliche Note retten.

Auch außerhalb der Schule gibt es unendlich viele Möglichkeiten! Warum nicht Doom Metal-Hymnen übers langsame Älterwerden und Ansätze zur Rentenfinanzierung? Warum nicht Death Metal-Songs darüber, dass das Baby, das man eigentlich von Herzen liebt, die dritte Nacht in Folge durchschreit und man den Zorn in sich aufsteigen spürt? Warum nicht Hardrock-Nummern über die Tücken von Steuererklärungen? Warum nicht Progressive Metal-Epen über objektorientiertes Programmieren? Warum nicht skurriler Humor auf einem Power Metal-Album, z.B. “Wenn der Drache seine Tage hat”?

Nur so wird der Heavy Metal die Welt retten können!